Die Kirche? Es gibt keine. Keine Organisation, keine Hierarchie, keine Sakramente. Jeder Muslim kann predigen. Oder eine Ehe schließen. Oder das Totengebet für einen Verstorbenen beten.
Interpretation von Schriften? Soweit zentrale Glaubenssätze betroffen sind, sind sich Muslime einig. Gott ist Gott und die Propheten waren menschlich. Der Qur´an ist das Wort Gottes, ebenso wie die Bücher, die den anderen Propheten offenbart worden waren. Engel sind eine Realität und die Wiedererweckung ist eine Realität. Die islamischen Gelehrten sind – im Gegensatz zu ihren christlichen Gelehrten – besorgter um die praktische Anwendung der religiösen Prinzipien. Sie verkünden religiöse Meinungen auf der Grundlage von Qur´an und Sunna, wie es uns der Prophet Muhammad, Gottes Segen und Frieden seien auf ihm, gezeigt hat. Eine derartige Expertenmeinung nennt man "Fatwa". Kein Gelehrter hat in irgendeiner Form eine von Gott erteilte Autorität. Eine Fatwa spiegelt die persönlicher Meinung des Gelehrten wieder, auf der Grundlage von Beweisen aus den Texten. Du kannst sie übernehmen oder es lassen.
Über eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt bezeugen diesen Glauben. Und bis zum heutigen Tag hat der Islam seine Anziehungskraft nicht verloren. Das arabische Wort "Islam" hat dieselbe Buchstaben-Wurzel wie das Wort "Salaam", Friede. Also deutet die Bedeutung des Wortes Islam darauf hin, auch Frieden zu finden, Frieden mit Gott und mit einem selbst.
Ich lernte und verstand. Aber noch immer akzeptierte ich die Wahrheit nicht. Ich schätze, ich war einfach zu faul, um Muslim zu werden. Es wirkte so schwer für mich. Der Islam ist etwas, das in jeden Lebensbereich eintritt. Das Christentum andererseits tendiert dazu, die Realität dieser Tage zu vergessen. Wohl bemessene Frömmigkeit, die für den kirchlichen Gottesdienst wie ein Sonntagskleid getragen wird, wird dann für den Rest der Woche im Schrank verstaut.
Nichtsdestotrotz fing ich an, den Islam auszuprobieren. Ich nahm mit meinen muslimischen Nachbarn am Fasten im Monat Ramadhan teil. Das bedeutet, ich aß und trank nichts zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Und jeden Abend trafen wir uns, um zusammen das Fasten zu brechen. Manchmal kochten wir auch zusammen. Es stellte sich heraus, dass ein ägyptischer Student mit dem Namen Mohamed ein exzellenter Koch war. Einmal in der Mitte des Monats nahm mich Mohamad beiseite und ermutigte mich, Fragen zu stellen. Da stellte ich viele Fragen und auf jede einzelne gab er eine hervorragende Antwort. In jenen Nächten des Ramadhan hatte ich auch Gelegenheit, die Gebete zu beobachten. Und ich versuchte, in der Abgeschiedenheit meines Zimmers, nachzumachen, was ich bei ihnen gesehen hatte. Ich verbeugte mich und warf mich nieder. Da ich die Worte nicht kannte, die sie sprachen, improvisierte ich, indem ich sagte: "Unser himmlischer Vater…" Ich begann ebenfalls meinen Konsum an Schweinefleisch und Alkohol zu reduzieren. Und einmal, als ich in die Stadt ging, warf ich mir ein Kopftuch über die Haare, einfach um es auszuprobieren. Schließlich lernte ich auch, warum die Palästinenser in den Studentenwohnheimen eine Flasche Wasser in das Badezimmer stellen. Für Muslime ist es normal, sich nach dem Toilettengang zu waschen. In Deutschland gibt es normalerweise keine Handduschen oder ähnliches in den Badezimmern, so wie in muslimischen Ländern. Deshalb brauchte man eine Wasserflasche.
Viele Muslime um mich herum wunderten sich über mein Interesse am Islam und in Wirklichkeit kümmerten sich viele von ihnen selbst nicht allzu sehr um die islamischen Regelungen. Immer wieder hörte ich: „Natürlich bin ich Muslim. Wenn ich in meiner Heimat leben würde, würde ich nach dem Qur´an leben. Aber hier in Europa ist alles anders. Ich bin noch jung. Ich werde irgendwann in Zukunft genügend Zeit haben, fromm zu sein."
Auf der anderen Seite gab es auch einige Leute, die sich sehr anstrengten, ihren Glauben richtig zu praktizieren. Einer meiner Nachbarn im Studentenwohnheim gehörte zu dieser Sorte. Mohamed, der exzellente Koch im Ramadhan, hatte einen Bachelor in Biophysik in Ägypten und war nach Deutschland gekommen, um seinen Doktor zu machen. Als ich ihn kennen lernte, war er gerade 6 Monate in Deutschland und nahm noch an dem Sprachkurs an der Universität teil.
Seine Religion, der Islam, bedeutete ihm alles. Er hatte bereits ein breites Wissen über islamische Angelegenheiten erworben. Unter den Arabern im Studentenwohnheim wurde er „Schaikh" genannt. Ein Spitzname, der nicht zu einem 24 jährigen, sportlichen Mann mit schwarzem, lockigem Haar zu passen schien. Mohamed selbst mochte diesen Namen nicht. Einmal erzählte er mir, die Verantwortung sei ihm zu groß.
In der Tat kam jeder, der einen Rat oder Hilfe brauchte, zum "Schaikh". Wenn ein Student ein Zimmer suchte, oder wenn jemand ins Krankenhaus musste, oder auch nur seine alten, gebrauchten Bücher verkaufen wollte zu Mohamed.
Am Anfang entwickelte sich unsere Bekanntschaft ziemlich langsam, denn Mohamed bemühte sich, sein Bild als praktizierender Muslim aufrechtzuerhalten. Er hielt sich von jeder möglichen Versuchung fern. Und für einen Muslim gehören Frauen definitiv in diese Kategorie. Doch bald überkam ihn seine religiöse Verantwortung. Ist es möglich, jemanden fortzuschicken, der sich für den Islam interessiert?
Für mich war er wirklich eine interessante Person zum Reden. Ich habe selten jemanden getroffen, der so aufgeschlossen ist wie er. Wir haben unsere Zeit damit verbracht, über den Islam und die Welt zu diskutieren; natürlich nur an neutralen Orten. Wir haben in der Zeit viel von einander gelernt, und Mohamed wurde zu einem meiner vertrautesten Freunde.
In der Zwischenzeit hatte ich mein Interesse an meinen ökonomischen Studien verloren. Aufgrund meiner wenigen Anstrengungen sind meine letzten Examen nicht allzu gut ausgefallen, und da habe ich beschlossen, Orientalistik zu studieren. Ich dachte mir, ein guter Abschluss in diesem Fach würde mir mehr bringen, als ein schlechter Abschluss in Ökonomie. Meine Studien verliefen eine Menge glatter. Einige Verdienste aus meinen Ökonomiekursen konnten auf meine kleinere Soziologie übertragen werden. Und die neuen Kurse waren so interessant für mich. Sie boten eine Riesenmenge neuer Themen für Diskussionen mit Mohamed.
Während dieser Zeit fing ich schließlich an, die Muslime zu unterstützen. An der Universität war ich mehr und mehr verärgert über die ironische Art, mit der Muslime von nicht muslimischen Mitarbeitern behandelt wurden. Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, selbst Muslim zu werden. Was für eine arabische Frau gut ist, muss nicht zwangsläufig gut für eine deutsche Frau sein. Ich dachte bei mir selbst, wie kann eine deutsche Frau als Muslima leben? Ich hörte von solchen Frauen, doch ich habe nie jemanden persönlich getroffen. Dies war, was ich dachte. Kurz vor den Frühlingsferien fand ich zufällig heraus, dass eine der Studentinnen in meinem Arabischkurs eine deutsche Muslima war.
Es war immer noch Winter und kalt draußen. Jedesmal, wenn diese Frau das Klassenzimmer verließ, zog sie ihr Wolltuch über ihren Kopf. Eines Tages fragte ich sie, ob dies irgendwelche andere Gründe habe als die Kälte und sie bejahte.
Heide war eine Lehrerin, die mit einem Muslim vom Libanon verheiratet war. Als sie Muslima wurde, nahm sie den islamischen Namen Khadija an. Sie nahm am Arabischkurs teil, um Verdienste für einen graduierten Kurs für den Unterricht von Ausländern zu sammeln.
Von ihr erfuhr ich, dass es in unserer Stadt eine Organisation deutsch sprachiger muslimischer Frauen gab. Ich nahm ihre Einladung an, sie zu einem der Gruppentreffen zu begleiten. Und von da an begann sich alles in hohem Tempo zu verändern.
Wir einigten uns auf einen Tag, an dem wir gehen wollten und Heide bot sich an, mich zu fahren. Dieses Mal trug Heide ein "richtiges" Kopftuch, das sie ziemlich elegant um ihren Kopf gewickelt hatte. Ich hatte mir ebenfalls ein Kopftuch mitgebracht. Ich wurde ein bisschen nervös. Wie würde ich als Nicht-Muslim aufgenommen werden? Was für Frauen würde ich treffen? Heide beruhigte mich und sagte, dass Gäste immer willkommen sind, und es gäbe keinerlei Grund für mich, ein Kopftuch zu tragen.